Ismail Incedal
Türkei
1995
Auszüge aus dem Interview
„Ich komme aus einer großen Familie. Im Ort sind alle eine Familie, alle verwandt. Es war eine Gemeinschaft. Man hat zusammengelebt und gearbeitet. Die Kinder sind zusammen zur Schule gegangen. Es war ein langer Schulweg, je eine Stunde hin und zurück. Im Winter gab es auch viel Schnee. Wir mussten in der Türkei türkisch lernen, in der Schule. In der Familie wurde aber nur kurdisch gesprochen. Die Großeltern können zum Beispiel nur kurdisch. Deshalb haben wir es nicht gelernt. Ich wurde in der Schule immer geschlagen, weil ich kein türkisch sprach. Die weiterführenden Schulen waren sehr weit weg. Deshalb habe ich nach drei Jahren aufgehört. Die Kinder sollten auch als Schafshirten oder auswärts arbeiten. Die Männer sollten schnell arbeiten.“
„Es riecht überall im Dorf nach Schaf, Esel und Ziegen. Joghurt und Butter wurde selbst gemacht, auch Teigbrot, also Fladenbrot. Die Aprikosen, Birnen und Äpfel hatten eine schöne Laubfärbung im Herbst. Das Dorf war eine Stunde von der nächsten Stadt entfernt, heute gibt es eine Autobahn.“
„Ich habe dann die Schule gewechselt bis zur 8. Klasse und bin dann nach Istanbul gegangen. Mein Wunsch wäre gewesen, weiter zur Schule zu gehen, um Arzt zu werden.“
„Kurdische Schulen waren verboten in der Türkei. Die Eltern bringen den Kindern die Sprache bei. Ich kann aber nicht kurdisch lesen und schreiben. […] Mein Vater hat drei Jahre Militärdienst gemacht, deshalb hat er etwas Sprachkenntnisse.“
„Im Moment ist aber die deutsche Sprache wichtiger. Ich habe nur vom Hören gelernt. Ich hatte keine Möglichkeit einen Deutschkurs zu machen. Meine Kinder sollten erst Deutsch lernen. Dann sollen sie selber entscheiden, ob sie Türkisch oder Kurdisch lernen wollen als Erwachsene.“
„Mich interessiert es nicht, ob einer Türke oder Kurde ist. Am Ende ist es ein Mensch. Mich bedrückt, dass immer noch keine Einigung in der Türkei gefunden wurde.“
Aus dem Gespräch mit der Tochter
„Frühstück essen wir deutsch mit Brot und ganz viel Obst und Gemüse, Mittag eher orientalisches Essen. Ich studiere in Dresden Lehramt (englisch und Geschichte). Im Lehrplan ist nur europäische Geschichte vorgesehen, den muss man auch erfüllen. An Projekttagen würde ich gerne auch mal über kurdische und türkische Geschichte sprechen (Kurdistan ist auch existent mit eigener Kultur Sprache, Liedern …).“
„Der Konflikt ist präsent in Deutschland: Ich habe einen türkischen Namen und einen Namen, den darf man in der Türkei nicht verwenden - Efrîn (Evolution). […|Viele Türken sind sich bewusst, dass Kurden als Menschen zweiter Klasse in der Türkei behandelt und unterdrückt werden. Im Ausland tut man aber so, als wären sie alle eine Gemeinschaft:
Du bist türkisch
wurde dann immer gesagt, es ist nicht wirklich Gemeinschaft. In der Universität wird der türkische Name verwendet, Freunde benutzen den kurdischen Namen.“
„Sprache ist ein wichtiges Mittel, um sich in eine Kultur einzuleben. Wir hatten früher immer Diskussionen darum, warum wir nicht auch kurdisch gelernt haben. Aber meinem Vater war es sehr wichtig, dass wir zuerst ausschließlich Deutsch lernen, um später keine Sprachprobleme zu bekommen.“
„Ich schaue auch kurdische Serien mit Untertitel, und wenn ich etwas nicht weiß, frage ich meinen Papa. Ich finde, es ist wichtig, mehrere Sprachen zu können. Das ist Teil der Identität. Für mich ist es ein innerer Zwiespalt, was die Identität angeht. Man ist hier geboren spricht deutsch, aber hat zum Beispiel einen türkischen Namen. Man wird nicht als deutsche Person wahrgenommen, spricht aber kaum türkisch. Man will dazugehören, es ist aber immer ein Unterschied. Wenn ich in der Türkei bin, bin ich die Deutsche. In Deutschland bin ich die türkischstämmige oder kurdischstämmige Person. Das ist ein Zwiespalt. Ich identifiziere mich als deutsch.“
„Für die Geschwister ist Pirna die Heimat. Wir sind hier geboren, hier zur Schule gegangen, haben nur deutsche Freunde gehabt. Außer Sprache und kurdischen/türkischen Speisen ist alles deutsch. Zu Hause wird kurdisch, türkisch und deutsch gekocht.“
„Ich vermeide montags in der Nähe der Pegida-Aufmärsche zu sein. Ein Großteil der Bevölkerung denkt nicht so. Es gibt auch sehr viele gute Menschen, die dich so nehmen, wie du bist. Aber gerade bei Amtsgängen ist es aber immer der Fall, dass Menschen, die meinen Namen lesen, ein bestimmtes Bild haben. Manchmal erlebe ich auch Diskriminierung. Andere Probleme habe ich sonst nicht.“